Rechtsstand: 01.01.2021

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Erster Abschnitt. Grundsätzliche Bestimmungen

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Erster Titel. Theologische Grundlagen

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Artikel 1

( 1 ) Die Evangelische Landeskirche in Baden bekennt sich mit allen ihren Gliedern und Gemeinden als Kirche Jesu Christi.
( 2 ) Der Kirche Jesu Christi ist der Auftrag gegeben, das Evangelium in Wort und Tat zu bezeugen.
( 3 ) In der Gemeinschaft der gesamten Christenheit bezeugt die Evangelische Landeskirche in Baden das Evangelium allen Menschen dadurch, dass sie das Wort Gottes verkündigt, die Sakramente verwaltet und mit der Tat der Liebe dient. Aufgrund der Taufe ist jedes Glied der Kirche zu Zeugnis und Dienst in der Gemeinde und in der Welt bevollmächtigt und verpflichtet.
( 4 ) Für ihren Dienst bedürfen die Christen der ständigen Erinnerung an Christi Auftrag und Verheißung. Durch Predigt und Sakrament sammelt und erhält Christus seine Kirche. Dazu dient das Amt der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung (Predigtamt) in seinen verschiedenen Ausgestaltungen. Die Kirche erfüllt dadurch ihren Auftrag, die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.
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Literatur
de Wall, Heinrich (2016a): Pfarrer und Kirchenbeamte. In: Anke, Hans Ulrich / de Wall, Heinrich / Heinig, Michael (Hrsg.): HevKR. Tübingen, § 6.
de Wall, Heinrich (2016b): Grundlagen des evangelischen Kirchenrechts. In: Anke, Hans Ulrich / de Wall, Heinrich / Heinig, Michael (Hrsg.): HevKR. Tübingen, § 1.
Farner, Alfred (1973): Die Lehre von Kirche und Staat bei Zwingli (Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1930). Darmstadt, S. 10 f.
Friedrich, Otto (1959/60): Die neue Grundordnung der Evang. Landeskirche in Baden. ZevKR 7, S. 1 ff.
Friedrich, Otto (1978): Einführung in das Kirchenrecht unter besonderer Berücksichtigung des Rechts der Evangelischen Landeskirche in Baden. 2. neubearbeitete und erweiterte Aufl. Göttingen.
Frost, Herbert (1987): Kirchenverfassung. In: Herzog, Roman / Kunst, Hermann / Schlaich, Klaus / Schneemelcher, Wilhelm (Hrsg.) EvStL 3. Neu bearbeitete Aufl. Stuttgart, Sp. 1718 f.
Goertz, Harald (1997): Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther (Marburger Theologische Studien, Bd. 46). Marburg.
Hüffmeier, W. (1993): Das eine Wort Gottes – Botschaft für alle. Barmen I und VI, Bd. 2. Votum des Theologischen Ausschusses der EKU. Gütersloh.
Link, Christoph (1995): Typen evangelischer Kirchenverfassungen. In: Boluminski, Andrea (Hrsg.): Kirche, Recht und Wissenschaft (FS Albert Stein). Neuwied, S. 97 ff.
Wendt, Günther (1962): Das Ältestenamt im Aufbau der evangelischen Kirchenverfassung. In: Existenz und Ordnung. FS für Erik Wolf zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M., S. 93 ff. (wieder abgedruckt in: Winter, Jörg (1994): Kirchenrecht in geistlicher Verantwortung. Gesammelte Aufsätze von Oberkirchenrat i.R. Prof. Dr. Günther Wendt. Karlsruhe, S. 1 ff.).
Winter, Jörg (1995): Das Priestertum aller Gläubigen als Strukturelement evangelischer Kirchenordnung am Beispiel der Evangelischen Landeskirche in Baden. In: Boluminski, Andrea (Hrsg.): Kirche, Recht und Wissenschaft. Festschrift für Albert Stein zum 70. Geburtstag. Neuwied, S. 55 ff.
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A. Die Landeskirche als Kirche Jesu Christi

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Im ersten Abschnitt der Grundordnung werden die Grundlagen der Landeskirche dargelegt. Die darin enthaltenen theologischen Aussagen waren zum Teil schon bisher in der Grundordnung an verschiedenen Stellen enthalten, sind aber aus systematischen Gründen jetzt zusammengefasst und »vor die Klammer« gezogen worden.1# Auf diese Weise soll deutlich werden, dass sie für alle Bereiche und auf allen Ebenen für die ganze Landeskirche gelten.
2
Indem sich die Landeskirche in Art. 1 Abs. 1 »als Kirche Jesu Christi« bekennt, nimmt sie im Verhältnis zu ihren Gemeinden eine eigene ecclesiologische Qualität für sich in Anspruch.2# Es handelt sich bei ihr also nicht lediglich um einen verwaltungsmäßigen Überbau der Summe ihrer Einzelgemeinden, vielmehr hat sie selbst wie ihre Gemeinden unmittelbar teil am Verkündigungsauftrag, wie er im Absatz 2 benannt ist. Das wird durch die systematische Umstellung der Aussage in Absatz 2 unterstrichen, die früher in § 44 Abs. 1 GO zu finden war. Sie stand dort unter dem Abschnitt »Dienste in der Gemeinde«. Da der Auftrag der Kirche jedoch auf allen Ebenen der Kirche zu erfüllen ist, ist seine allgemeine Definition bereits unter die allgemeinen theologischen Grundlagen der Landeskirche aufgenommen worden.
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Damit folgt die Landeskirche in ihrer Verfassung einem Strukturprinzip, dass Herbert Frost wie folgt beschrieben hat:
»Weder ein bloßes Gemeindeprinzip, das nur die örtliche Gemeinde als Verkörperung der Kirche zuläßt und in independentistischer Weise in jeder übergreifenden Kirchenorganisation nur helfendes Verwaltungsgebäude sieht, noch ein Kirchenprinzip, das die Ortsgemeinde lediglich als Teilfunktion der als eigentliche geistliche Größe verstandenen Kirche begreift, kann Überzeugungskraft beigemessen werden. Vielmehr entwickelt sich das dynamische Geschehen der ekklesia gleichermaßen in der einzelnen Gemeinde wie auf allen Stufen des kirchlichen Verwaltungsaufbaues. Die Kirchengemeinde ist auf das helfende Miteinander aller Gemeinden ebenso angewiesen, wie eine umfassende kirchliche Gemeinschaft ohne das gemeindliche Geschehen ihres Sinnes beraubt wäre. Kirche ist nicht ohne Gemeinde, wie Gemeinde nicht ohne Kirche ist.«3#
4
Mit diesem Selbstverständnis weist die Landeskirche zugleich über sich selbst als eine Organisation hinaus, die in der rechtlichen Form einer Körperschaft des öffentlichen Rechts in Erscheinung tritt. Unabhängig davon verdankt sie ihre Existenz der Stiftung durch ihren Herrn Jesus Christus. Den Auftrag, »das Evangelium in Wort und Tat zu bezeugen«, hat sie sich nicht »in menschlicher Selbstherrlichkeit« ausgesucht, sondern er ist ihr für sie unverfügbar (vor-)gegeben. Deshalb darf sie ihn auch nicht »in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen«4#. Sie unterscheidet sich damit von allen anderen weltlichen Organisationen, die einer solchen vorgegebenen Bindung nicht unterliegen. Mit dem Bekenntnis, Kirche Jesu Christi zu sein, wird im Sinne der dritten These der BTE auch die auf Rudolph Sohms zurückgehende Vorstellung abgewiesen, nach der sich die verfasste Rechtskirche in ihren weltlichen Strukturen erschöpft.5#
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B. Priestertum aller Gläubigen und Predigtamt

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In das Bekenntnis als Kirche Jesu Christi und damit in den Verkündigungsauftrag einbezogen sind von Anfang an die Glieder der Kirche.6# Damit kommt bereits im ersten Satz das starke partizipatorische Element der Grundordnung zum Ausdruck, das im Abs. 3 Satz 2 durch das reformatorische Prinzip des »Priestertums aller Gläubigen«7# theologisch fundiert wird. Über seinen theologischen Gehalt hinaus wird ihm damit unmittelbare verfassungsrechtliche Relevanz beigelegt. In der Konsequenz dieses theologischen Ansatzes leitet die Grundordnung das kirchliche Amt aus der Verantwortung der Gemeinde für die auftragsgemäße und gemeindebezogene Arbeit der zu besonderem Dienst Berufenen ab, die durch die öffentliche Beauftragung bekräftigt wird (Art. 89 Abs. 4 GO).8# Die im Predigtamt enthaltenen Aufgaben werden demgemäß nicht exklusiv im Pfarramt konzentriert, es existiert vielmehr nach Absatz 4 in »verschiedenen Ausgestaltungen«, die im sechsten Abschnitt der Grundordnung näher beschrieben werden (Art. 89 bis 100 GO).9# Durch die Betonung der theologischen Lehre vom Priestertum aller Gläubigen für die Grundstruktur der kirchlichen Ordnung ist die Grundordnung darum bemüht, die vor allem in der lutherischen Theologie des 19. Jahrhunderts vertretene einseitige Prävalenz entweder des Amtes oder der Gemeinde zugunsten einer funktionellen Entsprechung und Zusammenschau beider Grundelemente zu überwinden.10# Mit unterschiedlichen Ansätzen standen sich damals die Vertreter der Institutions- und der Übertragungstheorie gegenüber.11# Während die »Institutionstheorie« das Amt als eine Institution der Kirche ansieht, die den Amtsträgern kraft göttlichen Rechts die primäre Befugnis auch zur äußeren Leitung der Kirche zuweist, ist nach Ansicht der »Übertragungstheorie« die Amtsvollmacht im Priestertum aller Gläubigen allen Christen geschenkt. Die Befugnis zur öffentlichen Ausübung dieses Amtes wird von der Gemeinde an die Amtsträger übertragen. Die Grundordnung steht der zweiten Auffassung näher. Das Predigtamt (Ministerium verbi divini) und das Priestertum aller Gläubigen sind zwar zu unterscheiden, sie entspringen aber der gleichen Wurzel.12# Die Landessynode hat sich zuletzt bei ihrer Tagung im Oktober 2015 zu dieser Konzeption bekannt, deren Vereinbarkeit mit der Confessio Augustana von Pfarrer i.R. Gerhardt Hof in einer Eingabe in Zweifel gezogen worden ist.13#
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In Absatz 4 greift die Grundordnung die Aussagen aus Artikel 5 der Confessio Augustana von 1530 über das Predigtamt auf.14# Der Grundgedanke ist dabei, dass sich die Menschen das Evangelium nicht selbst sagen können, sondern ihnen dieses in Predigt und Sakrament von außen zugesprochen werden muss. Dazu bedarf es eines besonderen Amtes, allerdings nicht im Sinne der exklusiven Bindung der Gnadenmittel an das Sakrament der Priesterweihe, wie es in der römisch-katholischen Kirche der Fall ist. Das Predigtamt ist nach reformatorischem Verständnis von Gott nicht als eine Institution eingesetzt, die sich vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen substanziell unterscheidet, sondern als eine notwendige Funktion, die auf den Dienst Verkündigung bezogen ist und sich darin entfaltet.15# Die Notwendigkeit und Legitimation für die Übertragung dieses besonderen Dienstes ergibt sich mit den Worten der Confessio Augustana daraus, dass ohne eine ordnungsgemäße Berufung »niemand in der Kirche öffentlich lehren oder predigen oder die Sakramente reichen soll«16#. Dieser Dienst wiederum beschränkt sich nicht auf die christliche Gemeinde im engeren Sinn, sondern richtet sich »an alles Volk«17#, denn Gott will, »das allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen«18#. Darin liegt der unaufgebbare Anspruch, in diesem Sinne missionarische »Volkskirche« zu sein, denn der Auftrag und der Vollzug der Sendung der Kirche können nicht eingeschränkt werden und sind insbesondere freizuhalten von politischen, ethnischen und rassischen19# Gesichtspunkten.

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1 ↑ Vergl. dazu: Einführung Rdnr. 77.
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2 ↑ Vergl. dazu: O. Friedrich (1959/60): S. 8.
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3 ↑ H. Frost (1987): Sp. 1720 f.
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4 ↑ 6. These der BTE; zu Barmen VI vergl.: W. Hüffmeier (1993): S. 79 ff.
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5 ↑ Vergl. dazu: Einführung, Rdnr. 5 ff.
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6 ↑ In der urspünglichen Fassung von Artikel 1 in der Grundordnung vom 23. April 1958 waren die Glieder der Kirche noch nicht erwähnt. Der Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 geht zurück auf einen Vorschlag des Haupt- und des Rechtsausschusses der Landessynode zum 5. Kirchlichen Gesetz zur Änderung der Grundordnung vom 29. Oktober 1971 (GVBl. S. 153); vergl.: Verhandlungen der Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Baden, Ordentliche Tagung vom 25. bis 29. Oktober 1971, Anl. 7a.
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7 ↑ Zum Priestertum aller Gläubigen vergl.: A. Farner (1973): H. Goertz (1997); J. Winter (1995).
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8 ↑ Kritisch dazu: O. Friedrich (1978): S. 344.
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9 ↑ Zu den Einzelheiten vergl. die Kommentierung dort.
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10 ↑ Vergl.: G. Wendt (1962) in: J. Winter (1994).
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11 ↑ Siehe dazu: C. Link (1995).
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12 ↑ Vergl. dazu auch: H. de Wall (2016a): § 6 Rdnr. 21.
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13 ↑ Vgl.: Verhandlungen der Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Baden, Oktober 2015, Anlage 1 mit der Stellungnahme des Evangelischen Oberkirchenrates sowie den Vortrag von Friederike Nüssel zum Amtsverständnis der Confessio Augustana, ebd., S. 22 ff.
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14 ↑ Der Absatz wurde durch das Kirchliche Gesetz zur Änderung der Grundordnung vom 25. Oktober 2012, GVBl. S. 253 ohne inhaltliche Änderung redaktionell neu gefasst.
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15 ↑ Vergl. dazu: H. Goertz (1997).
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16 ↑ Vergl. dazu H. de Wall (2016b): Rdnr. 60 ff. und oben die Kommentierung zu Art. 90.
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17 ↑ Der Ausdruck in § 1 Abs. 4 Satz 4 ist der sechsten These der BTE entnommen. Vergl. dazu: W. Hüffmeier (1993): S. 91 ff.
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18 ↑ 1. Timotheus 2, 4.
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19 ↑ Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die Ausgrenzung der Judenchristen im »Dritten Reich«; vergl. dazu bei Art. 2 Rdnr. 6.